"Orme Goga händ müaßa go" – Arme Kinder mussten gehen.
Über mehrere hundert Jahre gingen jedes Jahr zahllose Kinder aus Tirol, Vorarlberg, der Schweiz und Liechtenstein von Feber/März bis Oktober/November ins Schwabenland, um sich als Hütekinder zu verdingen. Die wirtschaftliche Not zwang die Eltern, ihre zum Teil erst achtjährigen Kinder ins Ausland zu schicken. Auf schwäbischen Bauernhöfen fanden sie Arbeit, Kost und Logis und entlasteten damit ihre Familien zu Hause.
Die ersten Erwähnungen des "Schwabengehens" fand man bereits im 16. und 17. Jahrhundert. 1625 schrieb der Pfleger auf Schloss Bludenz, Johann Conrad Kostner, erstmal darüber, dass Kinder aus dem Montafon jedes Jahr zum Hüten nach Ravensburg und Überlingen zogen. Das "Schwabengehen" erlebte im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt. Es wird geschätzt, dass damals jährlich fünf- bis sechstausend Kinder auf Höfen in der Fremde als Hütejungen, Mägde oder als Knechte arbeiteten.
Schwabenkinder (1)
Seit der Maria Theresianischen Schulreform 1774 waren die österreichischen Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren unterrichtspflichtig, 1869 wurde die Unterrichtspflicht auf acht Jahre ausgedehnt. Die Kinder durften nur dann ab dem Frühjahr ins Ausland reisen, wenn ihnen die österreichischen Behörden ihre Armut bescheinigten, einen Schuldispens gewährten und einen Pass ausstellten. Das Ende der Schwabengänge in großem Umgang kam erst mit dem 1921 eingeleitetem Abkommen zwischen Österreich un Württemberg, das bestimmte, dass auch die "Schwabenkinder" in Württemberg in die Schule gehen mussten. Da verloren die schwäbischen Bauern nach und nach das Interesse.
In der Praxis kamen aber immer noch Kinder zur Arbeit nach Oberschwaben, wobei bezüglich der Schule sowohl die württembergischen als auch die österreichischen Behörden "ein Auge zudrückten", wenn es sich um notorisch arme Familien handelte. Endgültig endete die Arbeitswanderung der Kinder erst mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs, als sich in den Herkunftsregionen die wirtschaftliche Lage verbesserte.
Schwabenkinder (2)
Die Wege aus Tirol und Vorarlberg bzw. aus der Schweiz nach Oberschwaben waren lang und äußerst beschwerlich. Für einen Teil der Kinder führte er über Bergpässe wie den Arlberg, die im allgemein im März noch von Schnee bedeckt waren und die viele mit schlechten Schuhen und dürftiger Kleidung zu überwinden hatten. Meist waren die Kinder von einem Erwachsenen, nicht selten einem Priester, begleitet, der unterwegs auf sie aufpasste und der auf den Märkten die Preise aushandelte. Für die Tiroler Kinder verbesserte sich die Situation erst mit dem Bau der Arlbergbahn im Jah 1884.
Hütekindermärkte gab es in Ravensburg, Friedrichshafen, Kempten und zuweilen in Wangen, Weingarten, Tettnang und Bad Waldsee. Die Kindermärkte in Oberschwaben fanden meist um Josephi (19. März) statt. Zu "Simon und Juda“ (Ende Oktober) oder an Martini (11. November) gingen die Kinder wieder zurück in die Heimat. Ursprünglich bestand der Lohn aus der Verpflegung und einigen wenigen, dem Bedarf entsprechenden Kleidungsstücken, insbesondere Schuhen. Dazu bekamen die Kinder auch etwas Bargeld. Aber auch ein Stück Stoff, meistens grobe Leinwand, wurde ihnen mitgegeben, die zur Anfertigung von Kleidern für die Daheimgebliebenen dienen sollte.
Unbekanntes Mädchen
Der Roman "Hungerweg. Von Tirol zum Kindermarkt in Ravensburg" (1989) von Othmar Franz Lang schildert die Geschichte der Schwabenkinder anhand eines Beispiels. Der Roman für jugendliche Leser hatte mehrere Auflagen und ist auch heute noch als Schullektüre beliebt.
Elmar Bereuter veröffentlichte 2002 den Roman "Die Schwabenkinder". Die Geschichte des Kaspanaze, der 2003 unter dem Titel Schwabenkinder den Anstoß zur Verfilmung durch Jo Baier gab.
im Frühjahr 2012 wurde mit der Erfassung eines Wanderwegenetzes begonnen, das den Marschrouten der Schwabenkinder folgt. Das Bauernhausmuseum Wolfegg (Landkreis Ravensburg) zeigt eine Dauerausstellung zum Thema.