Ob im Bauerntheater oder im Heimatfilm, welcher Mensch im deutschsprachigen Raum, vorausgesetzt er ist nicht jünger als 40 Jahre, hat noch nie etwas über die Geierwally erfahren? Lange dachte ich, diese mutige Frau aus Tirol (Österreich) sei eine reine Fantasiefigur gewesen. Bis ich durch Zufall in einem kleinen Gasthof in den Tiroler Bergen erfuhr, dass es diese Frau tatsächlich gegeben hatte, und dass die Episode, die sie berühmt gemacht hatte, nur ein Bruchteil ihrer interessanten Lebensgeschichte darstellte.
„Da die Felsenwand fast lotrecht gerade war, an der das Nest hing, und kein menschlicher Fuß sie betreten konnte, wurde Wally ein Strick um den Leib gebunden. Vier Männer, zuvörderst ihr Vater, hielten ihn zwar, aber den Zuschauern war es doch grausig zu sehen, wie das beherzte Kind, nur mit einem Messer bewaffnet, bis an den Rand des Plateaus vortrat und sich nun mit einem raschen Sprung in die Tiefe hinabließ.“
„Indessen durchschiffte die Wally unerschrocken das Luftmeer bis zur Mitte des Abgrundes, wo sie mit Jubel den kleinen Geier begrüßte, der dem fremdartigen Besuch die flaumigen Federn entgegensträubte und piepsend den unförmigen Schnabel gegen sie aufriß.“
„Ohne langes Besinnen packte sie mit der Linken den jungen Vogel, der nun ein jämmerliches Geschrei anhob, und nahm ihn unter den Arm. Da rauschte es durch die Lüfte, und in demselben Augenblick war es dunkel um sie her und wie in Sturm und Hagelwetter schlug und brauste es ihr um den Kopf. Ihr einziger Gedanke war: »Die Augen, rette die Augen!« und das Gesicht dicht an die Felswand drückend, focht sie mit dem Messer in ihrer Rechten blindlings gegen das wütende Tier, das mit dem scharfen Schnabel, mit Klauen und Fittichen auf sie eindrang."
Szenemontage zum Film von 1940
Sie hat es nicht verdient, für alle Ewigkeit ausschließlich als die Geierwally bekannt zu sein, als das mutige Tiroler Bauernmädchen, das einmal an einem Seil hängend in einer gefährlichen Felswand einen Adlerhorst ausnahm, weil sich keiner der Männer des Dorfes dazu getraut hatte. Anna Stainer-Knittel (1841-1915), in Elbigenalp im Lechtal (Tirol) geboren, war viel mehr als das, viel mehr als die Hauptdarstellerin in einem kitschigen Heimatfilm.
Sie war nämlich eine Versinnbildlichung dessen, was man durch Fleiß und Willen erreichen kann, ein frühes Beispiel für Frauenemanzipation. Sie zeigte sich selbstbewusst in Hose, schor sich das Haar kurz, und wählte ihren Ehegatten selber aus, was damals noch unerhört war. Die „Geierwally“ – allein unter diesem Name ist sie heute noch bekannt – war die erste weibliche Schülerin in die Kunstakademie in München und später eine erfolgreiche Porträt- und Blumenmalerin.
Maria Anna Rosa Knittel war die Tochter des Büchsenmachers Joseph Anton Knittel. Ihr Onkel Josef Alois Knittel war ein Bildhauer, ihr Großonkel Joseph Anton Koch ein Maler. Dass sie überhaupt bekannt wurde, verdankt sie ausschließlich der deutschen Schriftstellerin Wilhelmine von Hillern (1836 – 1916) und deren Heimatroman „Die Geierwally“ (1875), dem Annas Lebensgeschichte als Grundlage diente.
Geierwally-Skulptur in Elbigenalp
Die im 19. Jahrhundert im Lechtal noch häufig vorkommenden Adler, die im Volksmund wie alle Greifvögel „Geier“ genannt wurden, wurden in der damaligen Zeit gejagt, da man zu Recht befürchtete, dass die Lämmer in den Schafherden von Adlern gerissen werden konnten. Es galt als selbstverständlich, dass zumindest die Nester ausgenommen werden mussten. Annas Vater hatte für die Jungadler einen Verschlag gebaut, in welchem er sie aufzog, um sie später an einen Falkner oder einen Zoo zu verkaufen.
Die Geierwally (1921) - Der Stummfilm
Als Anna siebzehn Jahre alt war, traf es sich, dass ihr Vater an einer hohen Felsenwand, der Saxerwand bei der Bergsiedlung Madau, ein Adlernest entdeckte; aber nachdem im Jahr zuvor (1857) nur knapp ein Unglück vermieden worden war, fand sich diesmal niemand, der sich an einem Seil herunterlassen wollte, um das Nest an der senkrechten Klippe auszunehmen.
Die Geierwally, Antiquariatsausgabe
Da bat die Siebzehnjährige ihren Vater, er solle sie das machen lassen. Sie sei „der Mann dazu"! Schon am nächsten Tag schlüpfte sie in die Hose ihres Bruders, ließ sich in der Saxerg'wänd zum Adlerhorst abseilen, hob den Adlerhorst aus und gelang zu ewigen Ruhm! Fünf Jahre später war es wieder so weit. Das Nest war wieder von Adlern besetzt worden, die den Viehbestand bedrohten. Wieder fand sich niemand, der mutig genug gewesen sei, sich in das gefährliche Abenteuer zu stürzen. Und wieder machte sich die „Adleranni“ auf den Weg zur Wand.
Die in den Heimatfilmen immer dramatisch dargestellte Szene, in der sie sich nur mit Not gegen den angreifenden ausgewachsenen Adler wehren muss, fand in dieser Form wohl nicht statt. Laut eigenen Aufzeichnungen packte Anna das Adlerjunge in ihren Rucksack, schrieb die Jahreszahl auf eine Felsplatte und stieg die Felswand wieder hinauf.
Die Geierwally (1956) - Ausschnitt
Auf dieses Ereignis wurde der deutsche Schriftsteller Ludwig Steub 1863 aufmerksam, der die Geschichte „Das Annele im Adlerhorst“ schrieb. Wirklich bekannt wurde Anna aber erst durch den im Jahr 1875 publizierten Roman „Die Geierwally“ von Wilhelmine von Hillern. Die Autorin schuf aus der Anekdote einen dramatischen Heimatroman, der, den Konventionen der Zeit entsprechend.
Was die Bestsellerautorin von Hillern für ihre Geschichte zurechtgebogen hatte, konnte später kein Theaterstück und kein Film mehr korrigieren: Aus Anna war eine Walburga geworden, aus der Tochter eines Büchsenmachers die Tochter eines Bauern, aus dem Lechtal das renommiertere Ötztal. Sowohl die publizierten Romane wie auch die Filme konzentrieren sich vor allem auf das eigensinnige Wesen Anna, die als sehr emanzipiert galt, und behandeln ihre zwiespältige Beziehung zu ihrem Vater.
Interessantes Detail: Wilhelmine von Hillern lernte ihr zukünftiges Romansujet kennen, als sie auf einer ihrer zahlreichen Tirolreisen das von Anna gemalte Bild „Adlerbild“ im Laden von Annas Ehegatten entdeckte.
Als Anna Knittel 1863 den Adlerhorst ausnahm, war sie bereits Studentin an der Kunstakademie
in München, wo sie im Jahr 1859
ihr Studium begonnen hatte. 1864 musste sie aber wegen fehlender Geldmittel das Studium abbrechen und ins Lechtal zurückkehren. Sie schuf in dieser Zeit zahlreiche Porträts, Landschaftsansichten und das „Selbstporträt in Lechtalertracht", das vom Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum angekauft wurde.
Als es ihr im Lechtal zu eng wurde, zog sie nach Innsbruck, um ihr eigenes Geld zu verdienen. Was ihr auch als Porträtmalerin gut gelang. Ihren Mann Engelbert Stainer, Gipsformator von Beruf, lernte sie 1870 durch Zufall kennen und heiratete gegen den Willen ihres Vaters, er hatte ein uneheliches Kind mit zu versorgen. Im Laufe der Jahre erreichte sie viel Anerkennung und so lebte die Familie in Wohlstand durch die beiden Einkünfte der Eltern. Im Jahr 1868 wurde der erste Sohn Karl geboren, 1870 der zweite Sohn Leo und 1871 die Tochter Rosa. Es gibt zahlreiche Porträts der Malerin von ihren Kindern. 1873 eröffnete Anna Stainer-Knittel in Innsbruck eine „Zeichen- und Malschule für Damen“, die sie bis ins hohe Alter leitete.
Als die Fotografie immer mehr das klassische Porträt ablöste, verschlechterte sich die finanzielle Situation der Familie. Da brachte ihr Mann auf die Idee, Blumen zu malen. So verzierte sie Geschirr mit Blumenbildern und malte Bilder verschiedenster Größe von Blumen aller Art. Ihre Werke fanden reißenden Absatz im Souvenirgeschäft von Engelbert Stainer.
1992 schrieb Felix Mitterer das Bühnenstück „Die Geierwally“ für Anna Knittels Geburtsort Elbigenalp und brachte die Geschichte dadurch wieder an ihren Ursprungsort zurück. Mitterer suchte für die Aufführung seines Stückes eine authentische Kulisse, und fand sie in der Bernhardstalschlucht.
Die Geierwally-Freilichtbühne hat sich in den letzten Jahren zu einem Geheimtipp für Theaterfreunde entwickelt. Die wildromantische Kulisse unter freiem Himmel wird zudem noch durch stimmungs- und effektvolle Bilder-, Licht- und Klangeffekte untermalt.